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MYTHOS |
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Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie, Quellen
und Deutung, 2 Bde., deutsch von Hugo Steinfeld, Reinbeck bei Hamburg
1955, 3. Auflage.
ATHAMAS
a. Athamas der Aioler, der Bruder des Sisyphos und des
Salmoneus, regierte über Boiotien. Auf Befehl Heras heiratete er Nephele,
ein Phantom, das Zeus als ihr Abbild geschaffen hatte, als er lxion,
den Lapithen, täuschen wollte, und das nun trostlos durch die Hallen
des Olympos wandelte. Nephele gebar Athamas zwei Söhne: Phrixos und
Leukon, und eine Tochter, Helle. Aber Athamas war über die
Verachtung, die Nephele ihm zeigte, verärgert und verliebte sich in
Ino, die Tochter des Kadmos. Er brachte sie heimlich zu
seinem Palaste am Fuße des Berges Laphystion, wo er mit ihr Learchos
und Melikertes zeugte.
b. Als Nephele durch die Palastdiener von ihrer Nebenbuhlerin erfuhr,
kehrte sie zornig zum Olymp zurück und klagte Hera diese Beleidigung.
Hera nahm für sie Partei und schwur: «Meine ewige Rache soll auf Athamas
und sein Haus fallen!»
c. Daraufhin kehrte Nephele zum Berge Laphystion zurück, wo sie öffentlich
Heras Eid verkündete und Athamas' Tod verlangte. Aber die Männer Boiotiens,
die Athamas mehr als Hera fürchteten, wollten nicht auf Nephele hören.
Die Frauen Boiotiens waren Ino ergeben, von der sie nun überredet wurden,
das Saatgut ohne Wissen ihrer Männer zu versengen, auf daß die Ernte
mißlingen sollte. Ino sah voraus, daß Athamas, wenn die Zeit zum Keimen
des Korns gekommen war, aber keine Pflanze erschiene, das Delphische
Orakel befragen würde, um den Grund dafür zu erfahren. Sie hatte bereits
die Boten des Athamas bestochen, eine falsche Antwort zurückzubringen.
Sie sollten berichten, daß das Land wieder fruchtbar werden würde, wenn
Phrixos, der Sohn Nepheles, Zeus auf dem Berge Laphystion geopfert werde.
d. Phrixos war ein schöner Jüngling, in den sich seine Tante Biadike,
die Gemahlin des Kretheus, verliebt hatte. Als er ihre Annäherungen
zurückwies, klagte sie ihn der versuchten Vergewaltigung an. Die Männer
Boiotiens glaubten der Geschichte Biadikes und priesen Apollons weise
Wahl eines Sühneopfers. Sie verlangten, daß Phrixos sterben sollte;
woraufhin Athamas laut weinend Phrixos auf den Berggipfel führte. Er
wollte gerade seine Kehle duchschneiden, als Herakles, der zufällig
in der Nähe war, heraneilte und das Opfermesser seiner Hand entwand.
«Mein Vater Zeus», rief Herakles aus, «verabscheut Menschenopfer!» Trotzdem
hätte Phrixos sterben müssen, wäre nicht ein geflügelter goldener
Widder, den Hermes auf Befehl Heras oder wie manche sagen, auf Befehl
des Zeus selbst, gesandt hatte, plötzlich
vom Olymp zu seiner Rettung niedergeflogen. «Steige auf meinen Rücken!»
rief der Widder, und Phrixos gehorchte. «Nimm auch mich!» bat Helle.
«Laß mich nicht zurück in den Händen meines Vaters.»
e. Da zog Phrixos sie auf den Widder, und dieser floh nach Osten, zum
Lande Kolchis, wo Helios seine Pferde hält. Doch dauerte es nicht
lange, und Helle wurde schwindlig. Sie verlor den Halt und stürzte in
die Meeresenge zwischen Europa und Asien, die ihr zu Ehren Hellespont
genannt wird. Phrixos kam sicher in Kolchis an und opferte den Widder
Zeus, dem Retter. Das goldene Widderfell wurde berühmt, als eine Generation
später die Argonauten kamen, es zu suchen.
f. Überwältigt von dem Wunder auf dem Berge Laphystion gestanden
die Boten des Athamas, daß sie von Ino bestochen worden wären, eine
falsche Antwort von Delphi zu bringen. So kamen all ihre Schlauheit
und die Verderbtheit der Biadike zutage. Wieder verlangte Nephele, daß
Athamas sterben sollte, und das Opferband, das Phrixos getragen hatte,
wurde auf sein Haupt gesetzt. Nur das erneute Eingreifen des Herakles
rettete ihn vor dem Tode.
g. Hera war über Athamas erzürnt und trieb
ihn zum Wahnsinn. Es war nicht nur Nepheles wegen, sondern auch, weil
er Ino geholfen hatte, das Kind Dionysos zu verstecken, den Bastardsohn
des Zeus mit ihrer Schwester Semele, das als Mädchen verkleidet in dem
Palaste lebte. Athamas ergriff in seinem Wahn einen Bogen und rief aus:
"Siehe, ein weißer Hirsch! Tritt zurück, während ich schieße!"
Er sprach dies aus und durchbohrte Learchos mit einem Pfeil. Dann machte
er sich daran, den noch zitternden Körper in Stücke zu reißen.
h. Ino riß ihren jüngeren Sohn
Melikertes an sich und floh. Aber sie wäre der Rache des Athamas kaum
entkommen, hätte das Kind Dionysos ihn nicht geblendet, so daß er irrtümlich
eine Ziege an ihrer Stelle zu peitschen begann. Ino rannte zum Molurischen
Felsen, von dem sie in das Meer sprang und ertrank. Dieser Felsen wurde
später ein Platz üblen Rufes, denn der wilde Skiron pflegte von ihm
Fremdlinge ins Meer zu stürzen. Aber Zeus, der sich der Freundlichkeit
Inos gegenüber Dionysos erinnerte, wollte ihren Geist nicht in den Tartaros
senden und machte sie zur Göttin Leukothea. Er vergöttlichte auch ihren
Sohn Melikertes als den Gott Palaimon und sandte ihn reitend auf dem
Rücken eines Delphins zum Isthmos von Korinth. Die Isthmischen Spiele,
die ihm zu Ehren von Sisyphos gegründet wurden, werden immer noch jedes
vierte Jahr gefeiert.
i. Athamas, der nun von Boiotien
verbannt war und ohne Kinder lebte, da sein letzter Sohn Leukon krank
geworden und gestorben war, fragte das Delphische Orakel, wo er sich
niederlassen sollte. Es antwortete: «Wo immer dich wilde Tiere bewirten.»
Er wanderte ziellos nach Norden, ohne Nahrung und Trunk, als er ein
Wolfsrudel traf, das gerade eine Herde Schafe in einer einsamen thessalischen
Ebene verschlang. Die Wölfe flohen, als er sich näherte. Er und seine
hungernden Gefährten aßen, was vom Fleische übriggeblieben war. Dann
erinnerte er sich des Orakelspruches und, da er Haliartos und Koronea,
seine korinthischen Großneffen, adoptiert hatte, gründete er eine Stadt.
Er nannte sie Alos, vielleicht nach seinen Wanderungen oder nach seiner
Dienstmagd Alos. Das Land wurde Athamania genannt. Später heiratete
er Themisto und zog eine neue Familie heran1.
j. Manche erzählen die Geschichte
anders. Sie lassen die Heirat des Athamas mit Nephele aus und sagen,
daß seine Frau Ino eines Tages, nach der Geburt des Learchos und Melikertes,
zur Jagd ging und nicht zurückkam. Blutflecken auf einem zerrissenen
Gewande ließen ihn annehmen, daß sie von den wilden Tieren getötet worden
war. In Wahrheit aber wurde sie von bacchischem Wahn erfaßt, als ein
Luchs sie angriff. Sie erwürgte ihn, zog seine Haut mit ihren Zähnen
und Nägeln ab und verschwand, nur in einen Pelz gekleidet, unter den
Teilnehmern der Orgien auf dem Berge Parnassos. Nach einer Zeit der
Trauer heiratete Athamas Themisto, die ihm ein Jahr später Zwillingssöhne
gebar. Doch da erfuhr er zu seinem Schrecken, daß Ino noch unter den
Lebenden weilte. Sofort sandte er nach ihr und ließ sie in das Zimmer
der Kinder bringen. Aber Themisto erzählte er: «Ich habe für dich ein
passendes Kindermädchen aus den Gefangenen von dem jüngsten Angriff
auf den Berg Kithairon.» Themisto, der ihre Mägde bald alles erzählten,
besuchte das Kinderzimmer und stellte sich unwissend, wer Ino sei. Sie
sagte ihr: «Pflegerin, bereitet bitte ein Paar weiße, wollene Kleider
für meine beiden Söhne und Trauergewänder für die Söhne meiner unglücklichen
Vorgängerin Ino vor. Morgen sollen sie getragen werden.»
k. Dann befahl Themisto am folgenden
Tag ihren Soldaten, in das königliche Kinderzimmer einzubrechen und
die Zwillinge, die in Trauer gekleidet wären, zu töten, aber die anderen
zwei zu schonen. Doch Ino, die erraten hatte, was Themisto vorhatte,
gab ihren eigenen Söhnen die weißen Kleider und die schwarzen Kleider
den Söhnen ihrer Widersacherin. So wurden die Zwillinge Themistos getötet.
Die Nachricht davon trieb Athamas
in den Wahnsinn: Er erschoß Learchos, den er für einen Hirsch hielt.
Aber Ino gelang es, mit Melikertes zu entfliehen. Sie sprang ins Meer
und wurde unsterblich.
l. Andere wieder sagen, Phrixos
und Helle seien die Kinder Nepheles durch lxion. Als sie eines Tages
im Walde wandelten, kam ihre Mutter, in bacchischem Wahn, einen goldenen
Widder an den Hörnern führend, zu ihnen. «Schauet doch», lallte sie,
«hier ist ein Sohn Eurer Base Theophane. Sie war zu viel umworben; so
verwandelte Poseidon sie in ein Schaf und sich selbst in einen Widder
und besprang sie auf der Insel Krumissa.»
«Was geschah mit den Bewerbern, Mutter?» fragte die kleine Helle.
«Sie wurden Wölfe», antwortete Ino, «und heulen nach Theophane die ganze
Nacht hindurch. Nun aber stellet keine anderen Fragen, klettert auf
den Rücken dieses Widders und reitet zum Königreiche Kolchis, wo Aietes,
Sohn des Helios, regiert. Sobald ihr ankommt, opfert Ares den Widder.»
m. Phrixos befolgte den eigenartigen Befehl
seiner Mutter und hängte das Goldene Vlies im Tempel des Ares zu Kolchis
auf, wo es von einem Drachen behütet wurde. Viele Jahre später rettete
sein Sohn Presbon oder Kytisoros, der von Kolchis nach Orchomenos gekommen
war, Athamas, als er als Sühneopfer dargebracht werden sollte2.
1. PAUSANIAS 1, 44, 11; IX, 34, 4-5 und
23, 3; APOLLODOROS I,7,3 und III, 4,3; HYGINUS, Fabeln 2 und 4; Poetisme
Astronomie II, 20; Fragmente von SOPROKLES' Athamas; NONNOS, Dionysiaka
X, 1 ff; Scholiast über HOMERS Ilias VII, 86; EUSTATHIOS über dasgl.;
Ovid, Metamorphosen IV, 480-541; Etymologicum Magnum 70, 8; STEPHANOS
VON BYZANZ unter: Athamania.
2. HYGINUS, Fabeln 1, 3, 5 und 88; Fragmente von EURIPIDES' Ino; HERODOT
VII, 197; P AUSANIAS IX, 34, 5.
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Topos:
Abraham, Iphigenie ...
Siehe auch Begriff der Athamantischen Ebene in der West-Kopais |
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